Mutter aller Küchen

Die „Frankfurter Küche“ ist die erste in Serie gefertigte Einbauküche der Welt. Mit knapp sechseinhalb Quadratmeter Fläche ist sie auch die Kleinste, in der einst gekocht wurde. Verantwortlich für den Arbeitskäfig im Baukastensystem war eine junge Österreicherin.

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In den 1920er Jahren wurde die sogenannte „Frankfurter Küche“ in der gleichnamigen Stadt als Standardküche in Tausende von Sozialwohnungen eingebaut. Entwickelt hatte die „Mutter“ aller Einbauküchen die Österreicherin Margarete Schütte-Lihotzky. Nur, wer war diese Frau, die diese epochale Neuerung entworfen hat?

Margarete Schütte-Lihotzky, Wiki

Margarete Schütte-Lihotzky wurde am 23. Januar 1897 in Wien geboren. Als junge Frau wollte sie Architektin werden. Kein leichter Job für das weibliche Geschlecht in Wien Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Zuerst besuchte sie die Kaiserlich Königliche Kunstgewerbeschule in Wien und begann ihr Architekturstudium  1915, mit 18 Jahren, mitten im Krieg, als erste Frau Österreichs.  Im Jahr 1918 beendet sie ihr Studium mit einem klaren Berufsziel Wohnungsbau zu betreiben. Im Nachkriegs-Wien, mit großer Wohnungsnot, setzte die Systematikerin Lihotzky auf günstigen Wohnungsbau mit standardisierten Materialien.

Funktionalismus, Rationalisierung, Standardisierung

„In Wirtshäusern, verrauchten Wirtsstuben, bei Petroleumlampen“, trat Margarete Lihotzky an die Arbeiter heran und erläuterte ihnen ihre Pläne, was aus der Sicht der Architekt*innen im Bereich des Wohnens verbessert werden sollte. In der Zeit des „Neuen Bauens“ war kein Platz mehr für große Räume und riesige Möbel. Ihre Prinzipien waren: Funktionalismus, Rationalisierung, Standardisierung. Alles Themen, wie sie auch von Le Corbusier, Walter Gropius und Mies van der Rohe – dem Dreigestirn der Moderne – aufgegriffen worden sind. Nach ihrer Meinung war es klar: „Dass die Berufstätigkeit der Frauen zunehmen wird, und zwar nicht nur, weil sie dazuverdienen wird zum Einkommen des Mannes, sondern die Selbstverwirklichung der Frauen steigen wird“, (Audio-Zitat, WDR-ZeitZeichen) davon war sie überzeugt.

Einfach, günstig und ergonomisch

Um die Wohnungsnot in Frankfurt am Main im Jahr 1926 zu lindern, beauftragte die Stadtverwaltung den Stadtplaner und Architekten Ernst May mit einem neuen Wohnungsbauprogramm. Die neue Bebauung sollte einfach, günstig und ergonomisch, hygienisch und praktisch sowie auf eine Kleinfamilie ohne, oder wenn überhaupt mit maximal einer Haushaltshilfe eingerichtet sein. Folglich beauftragte Ernst May die Kollegin Margarete Lihotzky, sich mit den Grundrissen der Wohnungen und im Zusammenhang mit Rationalisierung der Hauswirtschaft zu beschäftigen. „Das war der erste Anfang der Frankfurter Küche“, sagte Margarete Lihotzky später. Ihre Architektur-Kolleg*innen der Habsburger Monarchie hatten noch vorrangig den Eliten gedient und großbürgerliche Häuser mit Stuck und prachtvollen Fassaden entworfen. Lihotzky vertrat dagegen eher eine „soziale Architektur, um Lebensumstände zu verbessern“, berichtet das Magazin marx21.

Funktionalität auf sechseinhalb Quadratmetern

Für ihr Küchen-Projekt hat sie sich ein dreiviertel Jahr lang mit Maßband und Stoppuhr ihrer Vorliebe für Präzision und Rationalität hingegeben. Herausgekommen ist eine bis ins Detail durchdachte Funktionalität auf knapp sechseinhalb Quadratmetern. Exakt nach demselben Prinzip und Verfahren baute sie anschließend in der Mainmetropole Wohnsiedlungen, Wäschereien und Kindergärten. Über sich selbst sagte Margarete Lihotzky einmal: „Mich ärgert natürlich, dass die Leute immer nur von einer Frankfurter Küche reden. Sie werden lachen, ich habe nie selbst gekocht bevor ich die Frankfurter Küche gemacht hab. Bei mir zu Hause in Wien hat die Mutter gekocht und in Frankfurt bin ich ins Gasthaus gegangen. Verheiratet war ich erst später.“ (Audi-Zitat, WDR-ZeitZeichen)

Rekonstruktion der Frankfurter Küche im MAK Wien  / Wiki

Labor für die Hausfrau

Aber zurück zum Arbeitskäfig im Baukastensystem. Exakt 1,87 Meter breit und 3,44 Meter lang, waren die Mindestmaße der flurähnlichen Standardküche, die Schütte-Lihotzky das erste Mal im Jahr 1926 entwarf. Mit ihrer Küche wollte Lihotzky hauptsächlich Frauen die familiäre Hausarbeit erleichtern. Doch selbst diese seinerzeit sehr fortschrittliche Ur-Modulküche musste tatsächlich heftigste Kritik aushalten. Vom Labor für die Hausfrau war die Rede. Auch monierten die Zeitgenoss*innen, dass die Hausfrau in einem Arbeitskäfig isoliert würde und es keine Möglichkeit zur gleichzeitigen Kinderbeaufsichtigung gäbe. Die Empörung über die Abschiebung der Hausfrau nahmen viele Feministinnen die darauffolgenden Jahre auf. Viele der Kompaktküchen landeten später auch auf dem Müll.

10.000 Einbauküchen in Serienproduktion

Die erste „Frankfurter Küche“ ist im Rahmen des Bauprogramms „Das Neue Frankfurt“, einer Wohnsiedlung mit 1.220 Sozialwohnungen entstanden. Sie wurden im Mai 1926 in der Siedlungen Praunheim, Bruchfeldstraße und Ginnheim realisiert. Zwischen 1926 und 1930 entstanden insgesamt 10.000 dieser Einbauküchen in Serienproduktion. Die Baukosten pro Küche lagen zunächst bei 500 Reichsmark. Dann sanken sie dank höherer Stückzahlen und Fließbandarbeit in den Holzwerken. Zuletzt, in der Großsiedlung Westhausen, betrugen sie nur noch 238,50 Reichsmark, weiß die Allgemeine (FAZ) zu berichten.

Klappbügelbrett, Doppelspülbecken und Abtropfregal

Für ihre Mini-Kochstube dachte die Architektin aus Wien wirklich an alles: Ausziehbare Arbeitsflächen, das Material leicht abwaschbar und ein Drehstuhl sollte die Hausfrau vor dem Ermüden bewahren. Auch Schiebelampen und eine Klappbügelbrett waren in einem Griff zu erreichen. Neben dem Doppelspülbecken gab es ein Abtropfregal für das Geschirr und neben der Arbeitsplatte fanden sich fein säuberlich beschriftete Aluminium-Schütten für die gängigen Lebensmittel, die schnell zu greifen waren, so die FAZ weiter. Die in Blaugrün gestrichene Holzschränke sollten, einer damaligen Untersuchung zufolge, tatsächlich die Stubenfliegen fernhalten.

Deutschlands erste „Volks-Einbauküche“

Vor diesem historischen Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass sich die Frankfurter Küche als Repräsentant der Frankfurter Moderne als Deutschlands „Volks-Einbauküche“ weltweit einen Namen gemacht hat. Heute ist sie in vielen bedeutenden nationalen und internationalen Museen, bis hin zum Museum of Modern Art, New York, oder dem Viktoria und Albert Museum, London zu bestaunen. Exakt diese Originalküchen waren zuvor im Zuge von Privatisierung und Modernisierung der Wohnungen ausgebaut, geborgen und restauriert worden. Zur Aufbereitung der verbliebenen Exemplare hat die Ernst-May-Gesellschaft 2020 in der Hanauer Landstraße ein großes Küchenlager eingerichtet. Auch die Wohnungsbaugesellschaft Nassauische Heimstätten, die ebenso aus Frankfurt kommt, hatte im Herbst 2018 in der Siedlung Westhausen eine vollständig erhaltene Küche entdeckt, berichtete Frankfurter Rundschau (FR). Laut der Ernst-May-Gesellschaft handelt es sich hierbei um eine besonders kompakte Version der „Frankfurter Küche“.

Sechseinhalb Quadratmeter, blaue Fronten, erschwinglicher Preis: Für ihr Lebenswerk erhielt die Österreicherin erst sehr spät die gebührende Ehrung. Im Jahr 1980 verleiht die Stadt Wien der damaligen 83-Jährigen den Preis für Architektur. Am 18. Januar 2000, wenige Tage vor ihrem 103. Geburtstag, stirbt Margarete Schütte-Lihotzky in ihrer Geburtsstadt Wien. (LK)

Weitereführende Informationen: 

Faltbatt – Führung durch das ernst-may-haus (PDF-Download 874 KB)

WDR-Hörfunkbeitrag: ZeitZeichen vom 23.01.2022: 23. Januar 1897 – Geburtstag Margarete Schütte-Lihotzky

 

 

 

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