Hanau und die Medien
Die Medien sind unser aller Augen auf unsere Welt. Wir sind darauf angewiesen, dass die Informationen stimmen, die sie uns geben. Ein Blick auf diejenigen, die die Inhalte nach einem Terror-Akt wie in Hanau bereitstellen, ist daher geboten.

Nach jedem Terroranschlag beteuern die Berichterstatter in der deutschen Medienlandschaft immer und immer wieder, es beim „nächsten Mal“ besser zu tun, vorsichtiger zu sein im Umgang mit schnellen Zuschreibungen, weniger zu spekulieren und behutsamer umzugehen mit ihren Worten. Dennoch verfallen viele wieder in die gängigen Muster. Hanau war das letzte „nächste Mal“, als ein deutscher Rassist am 19. Februar 2020 Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov in zwei Bars erschoss und anschließend mutmaßlich seine Mutter und sich selbst tötete.
Was dann passierte, erklärt um so mehr, warum nicht nur die Angehörigen und Bekannten der Getöteten in Hanau sondern auch größtenteils die Öffentlichkeit ein gespaltenes Verhältnis zu den Medien haben. Denn in den Tagen nach dem Anschlag konzentrierten viele Journalist*innen ihre Recherchen auf den Täter und seinen Hintergrund und veröffentlichten teils sogar Ausschnitte aus der Videobotschaft des 43-Jährigen Verbrechers. Falsche Namen und Biografien der Getöteten und wilde Spekulationen zerstörten das Vertrauen in die Berichterstattung zusätzlich. Statt den Opfern Mitgefühl zu erweisen, stellten einige Journalist*innen sogar deren Familien in ein schlechtes Licht. Auch wilde Spekulationen, das hinter dem Attentat die „Spielautomatenmafia“ vermutet werde, machten auf sich aufmerksam. Später kritisierten einzelne Journalist*innen den Täter-Fokus einiger Medien und begannen, Opfer und Betroffene mehr und mehr ins Zentrum ihrer Artikel zu stellen.
Rassismus statt Fremdenfeindlichkeit
Zuvor titelten seriöse Medien noch Zeilen wie etwa „11 Tote in Hanau – Fremdenfeindliches Motiv vermutet“. Sie bezogen sich dabei auf die Bundesanwaltschaft, die „Anhaltspunkte für eine fremdenfeindliche Motivation“ sah. Andere Medien titelten „Eine Shisha-Bar und ein Kiosk mit einem hohen Anteil ausländischer Besucher“, die Reporter schrieben selbst in ihren Artikeln den Begriff „ausländerfeindlich“. Nur waren die Morde in Hanau nicht fremden- oder ausländerfeindlich, sondern rassistisch motiviert. Die Medien nutzen also einen Begriff, der die Perspektive des Täters wiedergibt und dadurch Rassismus fördert. Denn alle Opfer aus Hanau haben eine Migrationsgeschichte, das macht sie jedoch nicht zu Fremden in Deutschland. Nachdem bekannt wurde, dass die Tat rechtsextrem motiviert und die Opfer keineswegs Fremde waren, wurde schnell korrigiert und vom „rassistischen Motiv“ gesprochen. Immerhin lobte das Netzwerk Deutsche Medienmacher trotz der anfänglichen falschen Wortwahl, dass viel schneller als sonst üblich von „Rassismus“ und nicht mehr von „Fremdenfeindlichkeit“ gesprochen wurde, berichtete der Deutschlandfunk.
Ziffer 11 des Pressekodex
Andere Medien wiederum wurden dafür kritisiert, dass sie in ihrer Berichterstattung dem Attentäter mit vollem Namen genannt und seinen Videoaufnahmen erheblichen Raum gegeben hatte. Die direkte Verbreitung des kruden Gedankengutes spielte somit genau in die Hände des Täters. Dass das Manifest des Täters von Hanau vereinzelt auf den Titelseiten präsentiert wurde, ist aus Sicht des Berliner Selbstkontrollgremiums Deutscher Presserat allerdings kein Verstoß gegen die Ziffer 11 des Pressekodex. Denn das Manifest des Hanau-Attentäters sei von öffentlichem Interesse. Die Berichterstattung liefere tiefe Einblicke in das Weltbild des Hanau-Attentäters und ermögliche so eine Einordnung in Tat und Täter, heißt es zur Begründung.
Sündenfall „Shisha-Morde“
Selbst seriöse Nachrichtenmagazine ließen anfangs eine gewisse Verantwortung vermissen und lieferten mit Überschriften wie „Hanau unter Schock: Erste Bilder nach den Shisha-Morden“ mediale Sündenfälle ab. Denn „Shisha-Morde“ lassen sich leicht mit den „Döner-Morden“ durch den NSU assoziieren, wo von Anfang an viele Medien und sogar die Behörden zunächst kriminelle Verwicklungen der Opfer vermuteten. Bereits die Wortwahl „Döner-Morde“ wurde lange Zeit dazu missbraucht, die Schuld für die Morde im Umfeld der Getöteten zu suchen, anstatt bei rechtsradikalen Terroristen. Diese Wortwahl hat auch den Zorn vieler Kommentatoren heraufbeschworen. So verurteilt die Kommunikationsexpertin Clara Herdeanu das Framing von den „Shisha-Morden“. Ihrer Meinung nach bagatellisiert solch ein Begriff das Verbrechen und verlagert die Schuld auf die Opfer, indem diese durch exotische Namen und Gegenstände stereotypisiert werden.
Die Mär vom psychisch erkrankten Einzeltäters
In anderen Artikel schrieben die Redakteur*innen direkt nach dem Verbrechen, dass der Täter von Hanau kein rechtsextremistischer Terrorist, sondern vielmehr ein „Einzeltäter“ war. Für Tarek Cherkaoui, Manager am TRT World Research Center ist das unpassend. Der Frame vom „Einzeltäter“ sollte vollständig verworfen werden, da er seiner Meinung nach ein Irrglaube sei. „Die Übernahme von Frames wie „Einzeltäter“ oder Bezüge auf eine psychische Erkrankung stellen lediglich Versuche dar, den rechtsextremistischen Terrorismus reinzuwaschen. Solche diskursiven Tricks zielen darauf ab, die rassistische Ideologie der Täter zu schützen, die Terroranschläge zu entpolitisieren und sie für die Öffentlichkeit annehmbarer zu machen.“
Weiterhin kommentiert er in dem deutschen Ableger des türkischen Staatssenders (TRT): „Diese Versuche sind leider nicht neuartig und sind nach wie vor in den Nachrichtenmedien in Deutschland und anderswo allgegenwärtig“. Auch die Amadeo-Antonio-Stiftung hält es für falsch, den Attentäter von Hanau als „psychisch kranken Einzeltäter“ zu bezeichnen. „Der Täter mag eine psychische Erkrankung haben, aber vertritt ein geschlossenes rechtsextremes und rassistisches Weltbild, in dem verschwörungsideologische Elemente besonders ausgeprägt sind“, zitiert das Portal Berlin.de Timo Reinfrank, den Geschäftsführer der Berliner Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus engagiert. Schließlich befeuere die Endzeit-Rhetorik in rechtsextremen Online-Milieus wahnhafte Ideen und sei auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass aus psychischen Störungen mörderische Gewalt wie in Hanau wird.
Mehr Berichte, mehr Anschläge?
So oder so, es ein gefährliches Wechselspiel: Die Medien wollen durch ihre publizistische Stimulation des Schreckens beim Leser diese an sich binden. Der Terror indes will Schrecken verbreiten, um die Gesellschaft zu destabilisieren. Der mögliche Nebeneffekt dabei ist: Je mehr Terror-Berichterstattung, desto mehr Terroranschläge. Das zeigt die Studie „The Effect of Media Attention on Terrorism“ des Medienökonoms Michael Jetter. Er erforschte an der „University of Western Australia“ in Perth jahrelang die symbiotische Beziehung zwischen Medien und Terrorismus. Für seine Untersuchung hat er sich mehr als 61.000 Terroranschläge in den Jahren von 1970 bis 2012 in über 200 Ländern angeschaut und mit dem Ausmaß der Berichterstattung in der US-amerikanischen „New York Times“ in Verbindung gebracht. Das Ergebnis untermauert die Annahme, dass die Zahl der Terrorattacken mit der intensiven medialen Inszenierung korreliert. Das heißt demnach: Je mehr berichtet wurde, desto häufiger gab es Nachahmer-Taten. Leider liefert der Fall Hanau dafür einen traurigen Beweis: Zwei Tage nach der Tat verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf eine Shisha-Bar im sächsischen Döbeln. Einen Tag später schoss jemand auf eine geschlossene Shisha-Bar in Stuttgart.
Der mediale Werther
Zumindest weiß man in der Suizidforschung seit langem, dass effekthascherische Texte über Selbstmorde mit großen Überschriften und bestenfalls mit übergroßen Fotos gefährdete Menschen zur Nachahmung anregen können. Hierbei spricht man vom sogenannten „Werther-Effekt„. Der Soziologe David Phillips führte den Begriff in den 1970er Jahren ein, angelehnt an Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“. Darin nimmt sich der Protagonist aus unerfüllter Liebe das Leben und fand schon damals, in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, viele Nachahmer. „Der Werther-Effekt meint das Phänomen, dass die Zahl der Suizide in der Bevölkerung signifikant ansteigt, wenn in den Medien prominent und sensationsträchtig über einen Suizid berichtet wird“, sagt Benedikt Till, Psychologe an der Medizinischen Universität in Wien. Wenn dagegen Betroffene in den Medien über ihre Bewältigungsstrategien für suizidale Gedanken erzählen, hat das eine positive Wirkung, den „Papageno-Effekt“. Dieser Begriff wurde in früheren Studien des Zentrums für Public Health an der MedUni Wien in Anlehnung an Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel „Die Zauberflöte“ geprägt. Hier trägt sich Papageno im Glauben um den Verlust seiner geliebten Papagena mit Selbsttötungsabsichten, von denen ihn die „Drei Knaben“ durch Hinweise, was er anstelle des Suizids machen könne, schließlich doch noch abbringen. Neben der Forschung wissen mittlerweile auch die meisten deutschen Journalisten mit dem Thema Suizid verantwortungsvoll umzugehen. Denn der Pressekodex gebietet unter Richtlinie 8.7. „Zurückhaltung“ beim Texten über Selbsttötung. Eine Richtlinie, an der sich die Berichterstattung über Terroranschläge orientiert, fehlt nur leider bisher. Diese wäre allerdings eine nützlicher Kompass für die Redakteure.
Genau diese unsensible mediale Behandlung der Ereignisse kann Misstrauen, Wut oder Resignation gegenüber allen Medienschaffenden und ihre Arbeit auslösen. Immerhin konnten einige Journalisten den Fokus ihrer Recherche nach der Tat am 19. Februar in Hanau auf die Angehörigen der Opfer lenken. So wurden Interviews mit den Familien und den Freund*innen der Opfer sowie mit Vereinen geführt, welche sich stark für die Aufklärung des Attentats einsetzen. Darunter befindet sich beispielsweise auch die „Initiative 19. Februar Hanau“, in der sich Opfer-Angehörige sowie Überlebende des Anschlags zusammengeschlossen haben und die sich unter anderem für die Aufklärung der Tat in einem Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags starkmacht. Die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ wurde von Serpil Temiz Unvar, der Mutter des Anschlagsopfers Ferhat Unvar, in Hanau gegründet. Sie organisiert antirassistische Bildung, unter anderem in Schulen. Auch der Hashtag #SayTheirNames, „Nennt ihre Namen“, findet sich mittlerweile in vielen Berichterstattungen wieder, wo Familienangehörige und Bekannte der Opfer und auch Überlebende dort zu Wort kommen.
Fazit: Am 19. Februar 2020 wurden neun Menschen Opfer eines rassistischen Anschlags in Hanau. Bei der Berichterstattung tappten viele Medien anfangs in die üblichen Fallen beim Thema Rassismus. Einiges lief aber auch besser als sonst. Ein Grundproblem aber bleibt, dass von den Opfern sehr oft primär als Migrant*innen sowie Ausländer*innen berichtet wird, obwohl es Deutsche sind. Sie werden damit medial ausgebürgert. (DE)
Weiterführende Links:
Internationale Wochen gegen Rassismus
Initiative 19. Februar Hanau
Spendenaktion „Für lückenlose Aufklärung“
#SayTheirNames
Bildungsinitiative Ferhat Unvar
Beratungsstelle Response
Dachverband der Opferberatungsstellen (VBRG)
Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisationen (BKMO)
Aktionsplan gegen Rechtsextremismus
Bundesprogramm „Demokratie leben!“
Forum gegen Rassismus
Presseberichte zu Hanau (chronologisch geordnet)
Chronologie der Ereignisse in Hanau (mediendienst)
Chronologie der Ereignisse in Hanau (hessenschau)
Die Hanau-Protokolle im Spiegel
Die Kette behördlichen Versagens (PDF-Download, 276 KB)
Antrag zur Einsetzung des Ausschusses (PDF-Download, 1,64 MB)
Termine: Hanau-Untersuchungsausschuss